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4. Biografisch-künstlerischer Weg
 
4.4.5. Die Karitativ- und Leidlinderungsphase
 
4.4.5.1.  T.A.03996, Minenfeld #11 a,b,c Frauenhäuser
 
Am Beispiel zweier T.A.Verknüpfungen der Vergangenheit und Gegenwart soll diese Phase in ihrer bisherigen Entwicklung erläutert werden. In dieser Phase steht nicht nur der Mensch als künstlerischer Gestalter, sondern auch der von Leid betroffene Mensch im Mittelpunkt.
 
     T.A. 03996 a,b,c
 
     Ort: Frauenhäuser Linz, Wels, Steyr
     Zeit: 16.10. bis 11.12.1996
     Art: Minenfelder #11 a,b,c
 
Material: 23karätiges Blattgold auf Eisen/Glas, 8 cm x 8 cm Blattgold, je 50 cm x 50 cm x 3,5 mm
 
Bei der Lektüre der Samstagsausgabe einer oberösterreichischen Tageszeitung reifte am 19. August 1995 die Idee zur T.A. Frauenhaus. Zwei Reportagen bildeten die Mittelseite. Links eine erschreckende Reportage über die grausamen Beschneidungsriten an rund 100 Millionen Frauen und Mädchen in Afrika mit der Schlagzeile "Verstümmelung", rechts ein Artikel über den Bayernkönig Ludwig mit der Schlagzeile "Goldgrube". Menschliches Leid (Reportage links) und Thema Gold (Reportage rechts) sind für Angerbauer symbolisch verschmolzen im gefalteten Mittelblatt. Die Idee zu einer T.A. Frauenhaus war geboren.
 
OÖ Nachrichten Goldgrube Verstümmleung 1995 - Frauenhaus
(OÖ-Nachrichten, Magazin Seiten 6 und 7, 19. Aug. 1995)
 
Ausgehend von Steyr soll sich diese Idee über Landes- und Bundesgrenzen Österreichs hinweg kontinuierlich ausdehnen. Das Fundament dazu wurde 1996 in den Frauenhäusern Linz, Wels und Steyr geschaffen. Beim Erwerb der Kunstobjekte sowie bei den in den nächsten Jahren der T.A. 03996 in ganz Österreich folgenden Ausstellungen, die immer mit sozialen Aktionen stattfinden werden, soll vom Käufer eine Spende, die zumindest einem Viertel des Objektpreises entspricht, an ein Sozialprojekt oder an eine andere karitative Institution übergeben werden.
 
Die Bildträger sind nicht mehr Holz- oder Homogenplatten, sondern 3,5 mm starke Eisenplatten, auf die nun mittels Siebdruck der Bildinhalt aufgedruckt wird. Hier sind es die Abbildungen einer afrikanischen Frau, eines quadratischen Labyrinths, eines Photos eines Kleinkindes und einer Collage "Dinner Party".
 
In dieser T.A. wird deutlich, daß es Angerbauer nicht nur um das im Gold eingeschmolzene Leid geht, sondern auch um aktuelles Leid. Seine spezifische künstlerische Haltung steht für einen sozialen Prozeß "Kunst".
 
Der erste Bildinhalt (Abb. 21), die Abbildung einer afrikanischen Frau, versinnbildlicht das aktuelle Leid der "rund 100 Millionen Mädchen und Frauen in Afrika, (die) nach Schätzungen der WHO Opfer grausamer Beschneidungsriten (sind). Eine halbe Million soll an den Folgen des Eingriffes sterben.(...) Unbeschnittene Mädchen könnten in der heutigen Zeit, zum Beispiel in Autobussen, verführt und zur Sünde verdammt werden, führt Ali Gad al-Hap, Rektor der islamischen Universität von Kairo als einen Beweggrund für die brutalen Verstümmelungen an den wehrlosen und entrechteten Frauen an." (65) Dieser Bildinhalt steht für den Ursprung der Idee - das millionenfache Leid der Frauen und Mädchen in der Dritten Welt.
 
Der zweite Bildinhalt (Abb. 22) ist die Abbildung eines Zeichens in Form eines Labyrinths. Es ist das Tapuat, ein Symbol der Hopi Indios. Es symbolisiert die geistige Wiedergeburt von einer Welt zur nachfolgenden und bezeichnet das ungeborene Kind im Schoß der Mutter Erde. Ein Ursymbol, dessen Bezeichnung und Inhalt hier für T.A. im allgemeinen und für die T.A.03996 im speziellen steht.
 
Der dritte Bildinhalt (Abb. 23) stellt in einem 9.999fach verkleinerten Format die Abbildung eines Kleinkindes dar, das dem Betrachter den Rücken kehrt. Das seelische Leid der gequälten Kinder ist bildlich nicht darstellbar.
 
Der vierte Bildinhalt (Abb. 24) setzt sich aus Fundstücken in Form von Lesezeichen aus Büchern des Frauenhauses Linz zusammen und stellt inhaltlich die zeitliche, örtliche und künstlerische Beziehung zur Gegenwart her. Angerbauer stellt mit diesem Bildinhalt einen sehr direkten aktuellen Bezug zu seinen Handlungen in den Frauenhäusern Linz, Wels und Steyr dar. Dieser Bildinhalt ist Teil des Inventars des Frauenhauses Linz, spricht aber dennoch für alle Häuser und verbindet das Leid der Frauen in den Frauenhäusern mit dem Leid der Frauen in Afrika und anderswo auf dieser Welt. Die verwirrenden Bezeichnungen des Titels "Dinner Party" lassen der Phantasie des Betrachters freien Lauf.
 
Die Anordnung der Felder wurde in den jeweiligen Frauenhäusern Linz, Wels und Steyr verschieden angelegt (Abb. 25), die Bildinhalte sind immer die gleichen.
 
Der Mensch steht in Angerbauers Werk ganz und gar im Mittelpunkt als das Wesentliche überhaupt. Er definiert sich und sein Kunstwollen als absolute "soziale Kategorie."(66) Der Weg, den Angerbauer beschreitet, ist der Weg des Verbindens.
 
Frauenhäuser sind wichtige Institutionen und Anlaufstellen für Frauen und Kinder, die von Gewalt in der Familie betroffen oder bedroht sind. Durch sofortige Wohnmöglichkeit ist optimaler Schutz vor weiteren Mißhandlungen gewährleistet. In einer gewaltfreien Atmosphäre und mit Begleitung und Beratung durch die Betreuerinnen haben Frauen dort die Möglichkeit, selbständige Entscheidungen für ihr künftiges Leben zu treffen. Diese erste gemeinsame Aktion in Linz, Steyr und Wels zeigt das Frauenhaus als Chance für Frauen zu neuen Lebenszielen, als erster Schritt zur eigenverantwortlichen Lebensgestaltung.
 
Die "Goldenen Bodenfelder" (Abb. 26) bzw. "Goldenen Schwellen" vor den Frauenhäusern werden von zwei Gruppen von Menschen betreten. Die einen sind diejenigen, die dort arbeiten und menschliche Hilfe anbieten, die anderen sind diejenigen, die Hilfe brauchen und sie dort suchen. Jede Bewohnerin, Besucherin, Mitarbeiterin und jedes Kind hinterließen ihre persönlichen Spuren auf dem Minenfeld und wurden zu gleichberechtigten Mitgestaltern der Objekte. Gemeinsam hinterlassen sie alle ihre individuellen Spuren, seien es "Angstspuren", "Bedürftigenspuren", "trostgebende Spuren" oder "Hilfespuren". Auf jedem goldenen Objekt manifestiert sich der weibliche und zutiefst menschliche Weg, in dem sich alle individuellen Emotionen und Erfahrungen zentralisieren, als Symbol für Gemeinsamkeit, Gleichberechtigung und gemeinsame Betroffenheit. Diese Wege führen zu einem künstlerischen wahren Gestaltungsprozeß. Der Prozeß des Betretens als künstlerisches Gestaltungselement birgt somit in sich einen komplexen Zugang zu vielfältigen Sichtweisen.
 
Der Begriff der "Goldenen Schwelle" steht konträr zu den Empfindungen der Frauen, die diese Institutionen nach langem Hadern mit sich selbst, aufsuchen. Für sie bedeuten diese Eingänge zunächst einmal Hemmschwellen. Angerbauer stellt sich der Herausforderung, die Menschen, ihr Tun, ihre Emotionen und ihr Bewußtsein zu verbinden. Ein erster Gedankenkreis soll sich schließen. "Er versucht dies nicht im Sinne vordergründig betonter Themenfelder oder gar auf einer moralisierenden Ebene, sondern bietet vielmehr mit seinen Bildinhalten Assoziationsmöglichkeiten und Impulse für eigene Reflexionen (...) über die soziale Wirklichkeit menschlichen Seins an." (67)
"Gedankenloses Herumtrampeln und problembeschwertes Leisetreten werden auf Angerbauers goldenen Bodenfeldern sinnfällig, augenscheinlich, sichtbar, anschaubar. Äußerliches Gehabe wird durchschaut, entlarvt, jedenfalls erkannt. (...) Und wer mit dem Auge zu empfinden imstande ist, wird sich der Betroffenheit nicht entziehen können, die einen befällt, überfällt, wenn man eine starke (Spur) neben dem kaum sichtbaren ‚Kratzer‘, einen leichten Abrieb neben dem totalen Durchtreten mit Menschen in Verbindung zu bringen versucht, die hinein- und wieder hinausgegangen sind, über die Schwelle, (...) (Hemmschwelle), (Angstschwelle)." (68)
 
Menschen, die Angst haben, treten leicht und vorsichtig auf. Eigentlich wollen sie gar keine Spur hinterlassen, um nicht aufzufallen. Menschen, die ein gesundes Selbstvertrauen und Kraft haben, treten stärker auf. In diesen Spuren zeigt sich, was in Angerbauers goldenen Bodenfeldern alles eingetreten, manifestiert, eingeschlichen und eingerieben ist. Nicht jede einzelne Spur für sich ist von Bedeutung. Erst in der Verbindung mit den anderen Spuren entsteht Vollkommenheit.
 
"So wie der Mensch durch sein Begehen der Schwellen die dünne Goldschicht verletzt, dadurch die eigentliche Handlung initiiert, das Bildfeld gestaltet und unbewußt (oder bewußt) zu den eigentlichen Bildinhalten vordringt, deckt Johannes Angerbauer mit seinem Prozeß "Kunst" das persönliche und kollektive Bewußtsein des Menschen auf, hinterlassen seine kritischen Reflexionen im Beobachter selbst Spuren." (69)
Der Kreis schließt sich, indem der bei einem Verkauf erzielte Erlös wieder den Frauenhäusern zugute kommt.
 
Eine weitere Verbindung erfolgt dadurch, daß diese T.A nun mit der gegenwärtigen T.A.05699 Margareta in Beziehung steht und sich somit der ganze T.A.-Organismus zu schließen beginnt, sowohl inhaltlich, gedanklich als auch energetisch.
 
 
 
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4.4.3.3. Ideeller Inhalt: Goldmine Transformatoren  < Zurück        
 
(65) Angerbauer 1996, S. 16
(66) Assmann, Peter 1995, S. 5
(67) Hochleitner Martin 1996, S. 5
(68) Tolar, Günter 1996, S. 4
(69) Hochleitner Martin 1996, S. 5